Die Fabrikanlage der ehemaligen Gummifabrik Reithoffer beherrschte bis Anfang der 1890er Jahre die Katastralgemeinde Sarning, Stadtteil Pyrach. Der Gebäudekomplex bestand auf einer Fläche von über einem Hektar aus Fabrikationshallen, Lagergebäuden, einer Energiezentrale mit Kohlebunker und Verwaltungsbauten. Im Zuge der Eingemeindungen fiel dieser Stadtteil 1938 von der Gemeinde Garsten an die Stadt Steyr. Die Steyr-Daimler-Puch AG ließ um 1990 einen Großteil der Fabrikgebäude demolieren, den nördlichen Teil des Areals mit Verwaltungsbau, Fabrikhallen und Lagergebäude erwarb die Firma Siebenhandel. Das Hauptgebäude wurde 1994 unter Denkmalschutz gestellt und konnte so vor der Zerstörung bewahrt werden. 1996 erwarb die Stadt Steyr unter Bürgermeister Hermann Leithenmayr das Areal. 1996 startete der Verein „Industrieforum“ die Nutzung des Gebäudes mit der Installierung einer Ausstellung, die die Entwicklung vom Steyr-PKW bis zur heutigen Motorenproduktion von BMW in Steyr zum Inhalt hatte. Der Einbau der Ausstellung überdauerte einige Jahre. Allgemein war die Nutzung des leer stehenden Gebäudes als Kulturhaus gewünscht. Einige Künstlergruppen fanden hier zeitlich begrenzt eine Stätte für eine weite Schaffensperiode. Die Landesmusikschule am Brucknerplatz konnte die große Schülerzahl nicht mehr aufnehmen. Daher wurde von der Stadt Steyr die Möglichkeit eines Einbaus der Musikschule in das leer stehende „Reithoffer-Gebäude“ geprüft. 2007 begannen die Sanierungs- und Bauarbeiten für die Landesmusikschule und das Neue Amtshaus, beide wurden 2009 eröffnet. 2010 erhielt die Stadt Steyr für die Umnutzung und Restaurierung den Denkmalpreis des Landes Oberösterreich.
Geschichtliche Entwicklung
Die Geschichte der Familie Reithoffer ist eng mit der Geschichte der österreichischen Gummiindustrie verbunden. Von den Ureinwohnern Amerikas wurde das Harz der Gummibäume verwendet, um Haftgewebe und Korbflächen wasserdicht aufzubereiten. Holländer, Engländer und Franzosen brachten aus ihren Kolonien vor Beginn des 19. Jahrhunderts dieses Harz nach Europa. Die Entwicklung der österreichischen Gummiindustrie war in Garsten, am Stadtrand von Steyr angesiedelt. Josef Reithoffer, mit dem Stammsitz in der Wiener Rahlgasse und am Michaelerplatz im vormaligen Looshaus, begann 1832 unter der Verwendung des Harzes der Gummibäume mit der Erzeugung von verschiedenen Gummiwaren, u.a. von wasserdichten Regenmänteln. Die Gründung des Werkes in Gasten ab 1865 ist einem Zufall zuzuschreiben: Die Strafanstalt im ehemaligen Stift Garsten suchte für Sträflinge eine geeignete Dauerbeschäftigung. Reithoffer nützte die kostengünstige Arbeitsleistung der Strafgefangenen und errichtete in naher Entfernung ein neues Werk, eine Filiale des Wiener Stammsitzes, für die Erzeugung von Schweißblättern und Gummiwaren. Später entstand hier das Hauptwerk: die Gummi- und Kabelwerke „Josef Reithoffers Söhne“. Die Firmeninhaber erkannten den technischen Fortschritt auf dem Gebiet der Gummiwarenerzeugung auch mit der Entwicklung der Motorisierung. Nachdem gegen Ende der 1890er Jahre die Erzeugung von „Fahrrad-Pneumatiks“ aufgenommen worden war, entwickelte sich der Radsport in einem enormen Ausmaß. Die Herstellung von Autoreifen für Personen- und Lastkraftwagen brachte der Firma nach 1900 neue Impulse. Gleichzeitig begann die Erzeugung von gummiisolierten elektrischen Leitungsdrähten und Kabeln, die für weitere Aufträge sorgten. Zu Reithoffers Erzeugnissen zählten außerdem gasdichte Ballonhüllen, wasserdichte Kleider sowie gummierte Stoffe für sanitäre Zwecke. Für die Fabrikation von Gummiabsätzen und Sohlen wurden weitere Fabrikhallen errichtet. Die Zeit des Ersten Weltkrieges wirkte sich auf die wirtschaftliche Situation der Firma dramatisch aus. Die Absperrung der österreichischen Monarchie durch die Entente von den kautschukproduzierenden Ländern verhinderte die Einfuhr des notwendigen Rohstoffes, der bisher aus den Kolonien nach Steyr verfrachtet wurde. Der Rohstoffmangel führte dazu, dass ein Verfahren zur Wiederverwertung von Altgummi entwickelt wurde. Reithoffer gelang es kurz nach dem Ersten Weltkrieg, seine Produkte wieder am Weltmarkt zu platzieren. Er beschäftigte 1920 etwa 1000 Arbeiter und Angestellte. Trotz erfolgter Strukturbereinigung wirkte sich die Weltwirtschaftskrise dramatisch aus. 1926 fusionierte Reithoffer mit der „Semperit AG“. Der Geschäftseinbruch veranlasste die Eigentümer den Betrieb in Steyr 1932 einzustellen und nach Traiskirchen und Wimpassing zu verlegen. Zur endgültigen Schließung des Werkes kam es Anfang 1933. 1944 ging das Werk an die Steyr-Daimler-Puch AG, ab 1950 fertigte die Firma RIHA Fenster und Tore im Lagergebäude der ehemaligen Reithoffer-Werke bis 1975. Die Lagerhalle diente den Steyr-Werken bis zum Verkauf zur Aufbewahrung von Gussformen für die LKW-Produktion und als Plan- und Fotoarchiv.
Das Reifenmagazin der ehemaligen Gummi- und Kabelwerke „Josef Reithoffers Söhne“
Das „Reifenmagazin“ ist ein klar konzipierter Industriebau, der Organisation, Konstruktion und Architektur in harmonischer und gekonnter Weise verbindet. Er stellt somit ein herausragendes Beispiel für einen Typus von Industriebauten, wie sie in den letzten beiden Jahrzehnten der Monarchie in einer letzten Industrialisierungswelle vielfach entstanden sind, dar. Das 1903 errichtete Gebäude zeichnet sich durch die Verwendung neuer Bautechnologien aus Beton mit Eisenarmierung aus. Bereits 1861 entwickelte Francois Coignet eine Bautechnik im Betonbau mit der Verwendung von Metallnetzen für die Aufnahme der Zugkräfte. Mit großem Erfolg konnte der französische Unternehmer Hennebique die Verwendung von Beton mit Eisenarmierung entwickeln. In Österreich wurde dieses System „Hennebique“ 1889 adaptiert und durch die Baufirma Ed-Ast & Co eingesetzt.
Der dreigeschossige Fabrikbau für die Produktion und Lagerung von Reifen der ehemaligen „Gummi- und Kabelwerke Josef Reithoffers Söhne“ zeigt einen Eisenbeton-Skelettbau bestehend aus einem Tragsystem mit Pfeilern und Stahlbetonbinderdecken, die auf massiven Unterzügen gelagert sind. Der langgestreckte Baukörper mit den Abmessungen von ca.75 x 27 Metern, einem Satteldach mit geknickten Dachflächen sowie querstehenden dreieckigen Lichtbändern besitzt eine sechsachsige Giebelfront und zeigt in der Traufseite insgesamt 22 Fensterachsen. Zwei übergiebelte Risalite mit geknickten Zwerchdächern gliedern die langgestreckte Fabrikhalle. Die beiden Risalite sind an der Straßenfront nur leicht vorspringend, an der Rückfront als weit vorspringende Stiegenhaustrakte mit Stahlbetonstiegen ausgebildet, die das Erdgeschoß mit den drei Obergeschoßen verbinden. Die Fassadengliederung besteht aus einer Putzstruktur, bei der die Fensterachsen zum Teil paarweise zusammengefasst sind und in den Obergeschoßen vertikale Verbände bilden. Weiters bewirkt die Putzgliederung durch das Kordongesims im Erdgeschoß, sowie ein abschließendes, verkröpftes Hauptgesims die architektonische Ausformung des Gebäudes. Im Erdgeschoß unterstreicht ein horizontal geriffelter Putz die Gliederung der Fassade. In den Obergeschoßen gliedern durchgehende Lisenen sowie Parapet- und Sturzfelder die langgestreckte Fassadenfläche. Durch abwechselnd glatten und rauen Putz erscheinen die Flächen strukturiert und vermitteln eine plastische Wirkung. In den Giebelfeldern der Risalite an der Straßenfront deuten funktionsbezogene Bauplastiken, mit jeweils reliefierten Darstellungen heroisch-athletischer Halbfiguren mit Reifen auf die Funktion des Gebäudes. Großflächige, hochrechteckige Eisenfenster mit der für Industriebauten charakteristischen, kleinteiligen Eisenversprossung, gegliedert in drei horizontal kippbare Elemente, belichten das Innere des Gebäudes.
Die geschichtliche, künstlerische und kulturelle Bedeutung liegt darin begründet, dass es sich um ein industriegeschichtliches Denkmal eines stattlichen Hallenbaues vom Anfang des 20. Jahrhunderts handelt, dessen ausgeprägte, künstlerisch gestaltete äußere Erscheinung zahlreiche der für Industriebauten um 1910 charakteristischen Merkmale aufweist, etwa die rasterartige Putzgliederung, die großflächigen Fenster mit kleinteiliger Eisensprossung, sowie die funktionsbezogene Bauplastik. Weitere Bedeutung resultiert aus der Lage des Objektes am überregional bedeutenden Industriestandort Steyr.
Sanierung
Ausgangspunkt für die Adaptierung des Reithoffer-Gebäudes war die oberösterreichische Landesausstellung 1998. Mit der Errichtung des durch Architekt Rupert Falkner geplanten Industrieforums im Erdgeschoß wurde unter Bürgermeister Hermann Leithenmayr der Grundstein für die öffentliche Nutzung des Gebäudes gelegt. Der Ausstellung sollte das historische Archiv der Steyr-Daimler-Puch AG angeschlossen werden. Architekt Falkner wurde im Jahr 2000 mit der Entwicklung eines Planungskonzeptes für den Einbau der Landesmusikschule beauftragt. Durch die Verlegung der Musikschule vom Brucknerplatz in das denkmalgeschützte Reithoffer-Gebäude mussten neue Wege in der Konzeption der räumlichen Gliederung und Funktion für die Musikschule gesucht werden.
Um die Wirkung der großartigen inneren Raumstruktur der Einzelgeschoße nicht zu beeinträchtigen, wurden sämtliche Einbauten als solitäre Raumeinheiten bzw. „Raumboxen“ in das Gebäude integriert. Die innere Stahlbetonskelettkonstruktion der dreischiffigen Gebäudestruktur blieb weitgehend sichtbar. Die Auflagen des Denkmalschutzes umfassten, dass die hallenartigen Räume, das überlieferte Erscheinungsbild der Fassaden einschließlich der markanten Fabrikfenster erhalten bleiben mussten. Ein Raummodell im Maßstab 1:1 eines Klassenraumes der künftigen Musikschule ermöglichte die formale Beurteilung und die Prüfung der Schalldichtheit. Dieses Modell diente der weiteren Konzeption des Hauses und lieferte den Beweis der Durchführbarkeit der Planung von Architekt Falkner. Dieser wurde im Jahr 2006 mit der Gesamtplanung des Hauses – Einbau eines Festsaales und Unterbringung von Gesundheitsamt, Sozialamt und Bürgerservice im Erdgeschoß, der Landesmusikschule im ersten Obergeschoß und Adaptierung des zweiten Obergeschoßes für künftige Büroräume des Geschäftsbereichs für Bezirksverwaltungs-, Sozial- und Gesundheitsangelegenheiten, sowie des dritten Obergeschoßes für die Geschäftsbereiche für Bauangelegenheiten und Kindergartenverwaltung beauftragt. Eine besondere architektonische Herausforderung lag in der Nutzung der Halle im Dachgeschoß, die eine Höhe von 2,60 bis 7 Meter aufweist und die Dachkonstruktion aus geknickten Stahlbetonträgern sichtbar macht. Die Baudurchführung erfolgte durch die Fachabteilung für Liegenschaftsverwaltung und der Fachabteilung für Hochbau, begleitet von der Fachabteilung für Altstadterhaltung, Denkmalpflege und Stadterneuerung.
Bei der Sanierung stand die thermische Sanierung, Wärmegewinnung und Kühlung mittels Fotovoltaikanlage und Wärmepumpe/Grundwasser, die Entwicklung der denkmalgerechten Metallfenster und die Ausstattung mit zeitgemäßen Arbeitsplätzen, die Öffnung für die Bevölkerung und der räumlichen Verbesserung der Musikschule im Vordergrund. Mit der Sanierung des ehemaligen Industriegebäudes und der Nutzung als Haus für die Bürgerinnen und Bürger dieser Stadt wurde ein wichtiger Schritt zur Weiterentwicklung des Stadtteiles erbracht.
Obergeschoß vor und nach der Sanierung.
Zum Autor:
Dieser Beitrag stammt von unserem im Vorjahr verstorbenen Vorstandsmitglied Dipl.-Ing. Dr.techn. Hans-Jörg Kaiser und soll nun in Erinnerung an seine verdienstvolle Tätigkeit für die Denkmalpflege posthum veröffentlicht werden.
Dipl.-Ing. Dr. Hans-Jörg Kaiser († 2015) war tätig am Magistrat Steyr sowie ehem. Universitätsassistent am Institut für Baukunst, Denkmalpflege und Kunstgeschichte an der TU Wien, ehem. Leiter der Fachabteilung für Altstadterhaltung, Denkmalpflege und Stadterneuerung Steyr, Mitglied von ICOMOS Österreich, Lektor an der FH Campus Wien und Vizepräsident Europa Nostra Austria.
Alle Fotos wurden uns von Dr. Kaiser zur Verfügung gestellt.